Ein Beitrag von Lisa Bachmann
Der Debütroman von Caroline Wahl ist eine Liebesgeschichte und ihr Gegenteil. Es ist eine Geschichte über zwei Heldinnen, für die sich Liebe mehr wie Libellen als Schmetterlinge anfühlt…
Eingerahmt in eine Coming-of-Age-Erzählung beschreibt Caroline Wahl gnadenlos die verschiedenen Facetten von Liebe. Dazu gehört eine tröstende Sommerromanze, eine toxische Mutter-Kind-Beziehung und die daraus entstandene Geschwisterliebe, die stärker ist als der schwere Alltag, den die beiden Schwestern bewältigen müssen.
22 Bahnen krault Tilda im Freibad, um abzutauchen von der harten Realität. Zwischen Minijob an der Supermarktkasse, Mathematikstudium und alkoholkranker Mutter ist der Schwimmbadbesuch gemeinsam mit ihrer kleinen Schwester Ida eine kurze Auszeit aus dem mühseligen Erwachsenenleben, zu dem sie als junge Studentin viel zu früh gezwungen wurde. Durch die Abwesenheit eines Vaters und einer sorgenden, verantwortungsbewussten Mutter, bleibt Tilda nichts anderes übrig, als die nicht vorhandene Fürsorge selbst zu übernehmen. Sie muss sich um ihre jüngere Schwester kümmern.
Durch das Spiel zwischen nüchternem Sprachstil und aufblitzender kindlicher Hoffnung werden wir immer wieder daran erinnert, dass es sich hier zwar um fiktive Charaktere handelt, deren Situationen hingegen realer sind, als wir denken.
Jeder einzelne Mensch in Tildas Leben ist präzise gewählt und hat seinen berechtigten Platz. Sie tauchen auf wie im echten Leben und bringen ihre eigenen Fehler mit wie im echten Leben. Sei es die eigentlich beste Freundin, deren Geschichte ohne Tilda einfach weiterläuft oder der verunglückte Ivan, dessen Geschichte viel zu früh endet.
Doch vor allem der kaputte Charakter der Mutter ist Caroline Wahl besonders gelungen. Sie lässt es nicht zu, dass wir uns als Leser:innen für eine Seite entscheiden. In einem Moment wird die Mutter zu dem Monster, das von Ida gezeichnet wird und im nächsten ist sie eine bemitleidenswerte Frau. Sie versucht immer wieder ihrer Sucht zu entfliehen und für ihre Kinder da zu sein, doch dann ist die Tasche mit dem Altglas wieder voll. Während wir mit Ida auf ein gemeinsames Familienabendessen warten, verlieren wir mit Tilda immer mehr die Hoffnung darauf.
Trotz dieser tragischen Achterbahnfahrt verfärbt sich die Handlung nicht in eine depressive Stimmung. Ohne utopisch zu werden, bringen kleine Momente Bewegung ins scheinbar trostlose Wasser und führen zu großen Veränderungen. Sei es die Hilfe Viktors, die zu einer überraschend tiefen Verbundenheit zwischen Tilda und Viktor führt oder das Angebot der Promotionsstelle in Berlin, die für sie der Sprung in die Freiheit bedeutet.
Und so werden die scheinbar willkürlichen Rittergeschichten, die Schwimmbadbesuche im Regen und die Libellenvorträge ganz langsam zu Metaphern für eine Liebesgeschichte, eine gelungene Hymne an den Neuanfang.
Caroline Wahl: 22 Bahnen, Dumont Buchverlag, 208 Seiten, 2023