Buchcover "Die grauen Seelen" von Philippe ClaudeEin Beitrag von Thomas Kastura

Es gibt Bücher, bei denen ich die elegante Sprache bewundere und die scharfe Beobachtungsgabe. Und Bücher, die mich zutiefst erschüttern und im Innersten bewegen. Beides trifft auf „Die grauen Seelen“ von Philippe Claudel zu.

Warum? Diese Frage stellt sich auch der Ich-Erzähler, Polizist in einer lothringischen Kleinstadt. Warum wurde die zehnjährige Belle de Jour im Dezember 1917 erdrosselt? Warum fand man den Leichnam in der Nähe des Schlosses eines honorablen Staatsanwalts? Und was hat der abstoßende Richter Mierck mit dem Mordfall zu tun?

In einer Mischung aus Kriegsroman und Krimi und mit Hilfe eines ausdifferenzierten Figurenspektrums stellt Claudel die Gesellschaft zur Zeit des Ersten Weltkriegs dar. Der Grande Guerre steht bei ihm für einen radikalen Bruch im Selbstbild der Zivilisation, für eine beispiellose Verrohung, Enthemmung und industriemäßige Lebensvernichtung. Philippe Claudel zeichnet davon nur einen Ausschnitt, als Schauplatz wählt er ein frontnahes französisches Städtchen, von dem aus der Geschützdonner zu hören ist. Das massenhafte Sterben lässt sich nicht ignorieren, allein schon wegen der Militärkonvois und Verwundetentransporte. Doch die Bevölkerung schaut weg.

Der Mord an dem Mädchen verzahnt nun die Welt des Krieges mit diesem zivilen Locus Amoenus. Zwei Deserteure stehen unter Verdacht. Um ihnen ein Geständnis abzupressen, setzt sich die Justiz über Recht und Moral hinweg. Doch auch in vielen anderen Begebnissen sind beide Sphären miteinander verwoben. Zerstörungkraft und Sadismus, so Claudels Kernaussage, liegen im Wesen der Menschen begründet, ob an der Front oder im Hinterland. „Nichts ist ganz schwarz oder ganz weiß; das Grau setzt sich durch. So ist es auch bei den Menschen und ihren Seelen.“

„Nichts ist ganz schwarz oder ganz weiß; das Grau setzt sich durch. So ist es auch bei den Menschen und ihren Seelen. Du bist eine graue Seele, hübsch grau, wie wir alle.“ aus „Die grauen Seelen“ von Philippe ClaudelClaudel, geboren 1962 in Dombasle-sur-Meurthe in Lothringen, erzählt aus der Rückschau und in mäandernden Wendungen. Als sich der Mordfall am Ende wie von selbst löst, ist er nebensächlich geworden. Ergreifender und spannender sind drei parallel verlaufende Tragödien. Eine junge Lehrerin opfert sich für ihren Geliebten. Ein einsamer Staatsanwalt zerbricht an seinen Illusionen. Und der erfolglose Ermittler geht an Selbstvorwürfen zugrunde.

Seit seinem Erscheinen 2004 lese ich „Die grauen Seelen“ alljährlich wieder. Es lohnt sich jedes Mal.


Philippe Claudel: Die grauen Seelen. Aus dem Französischen von Christiane Seiler. Reinbek: Rowohlt 2004. 239 Seiten.

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