Grausamkeit – davon handelt Jean Rhys’ Guten Morgen, Mitternacht in meinen Augen. Dabei geht es nicht um offensichtliche Grausamkeiten, sondern um die alltäglichen. Sie verstecken sich in jeder Interaktion, zwischen Barhockern und Berührungen, zwischen Drinks und Dates, in Hotelzimmern und auf der Straße.
“Ganz wie in alten Zeiten” sagt das Zimmer. “Ja? Nein?”
Eine junge Engländerin im Paris der 40er Jahre. Sie ist alleine. Wonach sie sucht, weiß sie nicht. Eine Freundin hat sie nach Paris geschickt, um ihr zu helfen, auf andere Gedanken zu kommen. Jedoch ist die Stadt gefüllt mit Dingen, die sie an ihre Vergangenheit erinnern. Die Szenen sind stickig und bitter. Charaktere, die am Rande der Gesellschaft leben – Die Protagonistin hat kaum Kapazitäten für sie neben ihren unerbittlichen Gedankenströmen. So findet die eigentliche Handlung auf der seichtesten, oberflächlichsten Schicht des Romans statt. Darunter geht es tief – die Willkür ihrer Gefühle, ihre Einsamkeit, Angst, Frausein in den 1930ern. Die Protagonistin beobachtet ihre Unterlegenheit meist mit neutralem Blick – als wäre es selbstverständlich, als hätte sie nichts anderes verdient.
Ich mag Alfred. Einmal sagte er zu mir “Es ist sehr warm heute. Ich mache jetzt, dass Ihnen kühl und wohl wird.” Er nahm mein Handgelenk und blies darauf, ganz leicht, ganz gleichmäßig. Ich wollte es wegziehen, tat es aber nicht, weil er uns fünfhundert Franc geliehen hatte, und dann wurde mir wirklich kühl und wohl.
Mit einer zerreißenden Melancholie, nüchtern und tragisch, schreibt Jean Rhys einen Roman, wie er weiblicher nicht sein könnte. Er ist mit seinen 250 großbedruckten Seiten ein quick read, den ich jedem Mensch uneingeschränkt empfehlen kann. Ich habe ihn am Ende einer zweiwöchigen Wanderung von Würzburg gen Norden durch Zufall in einer Hamburger Buchhandlung gefunden. Mein damalig überwältigendes Gefühl der Fremde in einer großen Stadt wurde von diesem Buch so schön begleitet, wie es kein anderes hätte tun können.