Ein Beitrag von Elena Riedel
Als ich im Radio vom Tod des Autors Paul Auster (30. April 2024) hörte, begab ich mich auf eine (Wieder)Entdeckungsreise. Dabei fiel mir der etwas unbekanntere Einzeltitel „Nacht des Orakels“ auf, in dem Auster auf nur 288 Seiten ein literarisches Kartenhaus aufbaut: Eine Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte – mit zahlreichen Querverweisen zu existierenden und erfundenen Autor:innen (ja, ich habe gegoogelt) und einem Highlight des nicht-linearen Erzählens: Fußnote, die Hintergrundinformationen geben. Man möchte meinen, dass dem Leser damit einiges abverlangt wird, doch tatsächlich folgt man Auster mit Leichtigkeit in die Tiefen dieses Kaninchenbaus. Denn Orientierungsverlust ist Teil des Auster-Leseerlebnisses.
Worum geht es also? Ein Autor (Sidney Orr) findet nach schwerer Krankheit wieder ins Schreiben zurück. Er beginnt die Geschichte eines Lektors, die nach lakonisch erzählten Absurditäten in eine Sackgasse führt. Die einzige Verbindung zu seinem alten Leben ist ein Roman: Die „Nacht des Orakels“ erzählt die tragische Lebensgeschichte eines erblindeten Soldaten, der Zukunftsvisionen hat und am Abend vor seiner Hochzeit sieht, dass seine Braut ihn verlassen wird. Er begeht Suizid.
Während der Autor Sidney Orr sich in diesen Geschichten verliert, entgeht ihm Wichtiges in seinem eigenen Leben. Seine Frau ist tagelang verschwunden und scheint eine Krise zu durchleben. Statt eines klärenden Gesprächs, setzt er den Geheimnissen schreibend ein mögliches Szenario entgegen. Der Leser bleibt im Unklaren über Realität und Fiktion – und entscheidet selbst, ob das überhaupt eine Rolle spielt. Die Welt ist voller Geschichten und Irrwege – und kaum jemand vermag sie so schön zu erzählen, wie Paul Auster es konnte.
PS: Natürlich spielt auch dieser Roman in New York.
PPS: Knapp 14 Tage nach Paul Auster verstarb Alice Munro – auch sie ist eine (Wieder)Entdeckungsreise wert.
Paul Auster: Nacht des Orakels, aus dem Englischen von Werner Schmitz, Rowohlt Verlag 2012