Ein Beitrag von Johannes Jung
Um es gleich zu sagen: Akunins Roman ‚Türkisches Gambit‘ ist keine seriöse Literatur – das Buch ist nämlich ein ungeheuer spannender, unterhaltsamer, historischer Kriminalroman mit einer vollkommen unglaubwürdigen Hauptfigur von ebenso übermenschlichem Scharfsinn wie übermenschlicher Eleganz.
Natürlich – gewisse Qualitäten kann man dem Roman nicht absprechen: Es ist ein ungeheuer spannender, unterhaltsamer, intelligent konstruierter Krimi, in dem der schurkische Antipode unseres Superhelden erstaunlicherweise ein gebildeter, warmherziger Doppelagent voll humanistischer Ideale ist. Um diese beiden Zentralfiguren, Erast Fandorin auf der einen, Anwar Effendi auf der anderen Seite, entwirft Akunin ein facettenreiches Politikgemälde des späten 19. Jahrhunderts, faszinierend, detailliert, exakt recherchiert, fundiert, aber mit leichter Hand. Zudem agiert die Hauptfigur in ihrem übermenschlichen Scharfsinn, ihrer übermenschlichen Eleganz mit derart tiefer Melancholie und Empfindsamkeit, als wüsste sie selbst, dass sie gar nicht echt sein kann, als glaube sie kaum an die eigene Existenz.
Um was geht es? Während des Feldzuges 1877 gegen das osmanische Reich gerät die russische Offensive im heutigen Bulgarien ins Stocken – man vermutet Verrat, Spionage. In dieser Situation wird der junge Staatsrat Erast Fandorin zu Hilfe gerufen. Er übernimmt die Ermittlungen mit – es wurde erwähnt – übermenschlichem Scharfsinn, auch mit Eleganz.
Warum aber sollte man/frau so ein Buch lesen, gerade jetzt, in Kriegszeiten? Ich war verblüfft, wie aktuell vieles wirkt, wie viel klärendes Potential dieser Blick in die Vergangenheit mit sich bringt – nicht dass man diese völkerrechtswidrigen und barbarischen Grausamkeiten begreifen könnte, das wäre sicher anmaßend. Aber eine schwache Ahnung von der Zerrissenheit und den Abgründen eines Landes mag entstehen, auch von pfauenhaften Potentaten, denen ein Menschenleben nichts gilt. Dass sich Akunin schon lange entschieden gegen Putin gestellt hat, überrascht nicht.
Warum sollte man es nicht lesen? Bei anfälligen Naturen ist eine starke Abhängigkeit von allen Fandorin-Romanen zu befürchten. Bei mir zum Beispiel.
Boris Akunin: Türkisches Gambit. Fandorin Ermittelt, Aufbau Verlag 2001, 245 Seiten.